Design to Time
In zehn Jahren eine ganze Fotosammlung mit 500'000 Einzelobjekten integral bearbeiten – an dieser Mammutaufgabe arbeitet ein Team aus Konservatorinnen, I+D-Fachmännern und Historiker:innen schon seit fünf Jahren. Ein Ultramarathon, der über einen so langen Zeitraum dem Team viel abverlangt. Denn in der Projekthälfte ist längst klar, dass nicht alles so verläuft, wie 2019 geplant. Der Auftrag an Projektleiterin Martha Mundschin aber bleibt: Design to Time! Ein ehrlicher Zwischenbericht aus einem kräftezehrenden Projekt.
Unser Foto-Grossprojekt ‘Out of the Dark – Into the Light’, kurz ODIL, feiert nach fünf Jahren Halbzeit! Ein guter Zeitpunkt für eine Zwischenbilanz. In den letzten Monaten wurde viel gerechnet, verhandelt, neu skizziert, aufgeräumt, Ballast abgeworfen, Erwartungsmanagement betrieben und dabei hoffentlich genügend Motivation und Ehrgeiz für die nächsten fünf Jahre aufgebaut. Das haben wir dringend nötig, die Devise lautet nämlich weiterhin ‘Design to Time’. Es bedeutet, egal was während diesen insgesamt zehn Jahren Projektlaufzeit passiert, Ende 2029 müssen wir ‘fertig’ sein. Als für die Fotosammlung zuständige Konservatorin-Restauratorin und somit projektverantwortliche Koordinatorin frage ich mich im Moment immer wieder, welcher Grössenwahn mich damals geritten hat, als ich dieses Mammutprojekt mit viel Begeisterung zum Leben erweckte. Und wie soll ich es bloss zum Abschluss bringen?
Der Start
Im Jahr 2019 legten die Direktion, der damalige Sammlungsleiter und ich unserem Stiftungsrat das Konzept für das Grossprojekt ODIL vor. Darin baten wir die Stifterinnen Post und Swisscom um eine einmalige finanzielle Unterstützung, die uns grosszügig gewährt wurde. Für mich als Konservatorin-Restauratorin war das ein Karriere-Höhepunkt. Mit einem Schlag war die Grundlage für die Erhaltung von hunderttausenden mir anvertrauten historischen Fotografien gelegt. Im Gegenzug versprachen wir den Stifterinnen, dass bis Ende 2029 die gesamte Fotosammlung bewertet, erschlossen, digitalisiert und präventiv konserviert ist. Mit viel Tatendrang, Mut und Entschlossenheit sind wir also in das Projekt gestartet.
Dass die Projektrealität mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit von der Theorie abweicht, ist allgemein bekannt. So hatten wir zum Beispiel nicht von Anfang an die versprochene Produktivität. Das interdisziplinäre Projektteam musste zuerst zusammenfinden, Grabenkämpfe mussten ausgefochten werden und an die Stelle von theoretischen Modellen aus dem Lean-Management mussten praxistaugliche Prozesse treten. Das alles brauchte Zeit und genau diese rechneten wir in der Projektplanung nicht ausreichend ein. Dazu kamen ungenaue Schätzungen bei der Anzahl Objekte. Auch den Impact von Personalwechseln im Team auf den Projektfortschritt haben wir unterschätzt. Bei einem derart grossen Projekt, das ausschliesslich auf Schätzungen und Annahmen basierte, waren Abweichungen aber zu erwarten. Wir lernten aus unseren Fehlern und passten laufend alles an, was sich als nicht praktikabel oder sinnvoll erwies. Ein zehn Jahre dauerndes Projekt ist per Definition ein lernendes Projekt.
Ein zehn Jahre dauerndes Projekt ist aber vor allem eines: Extrem lang. Die ungewöhnlich lange Laufzeit hat sich pragmatisch rechnerisch durch die Grösse der Sammlung ergeben. Wie lange zehn Jahre tatsächlich sein werden, dafür fehlte mir damals die Fantasie. Erst jetzt nach fünf Jahren entwickle ich langsam eine Vorstellung davon.
Halbzeit – ohne Pause
Wir haben Halbzeit und es stellen sich mir wieder viele Fragen. Was hat ausgedient? Wo braucht es Anpassungen? Wie setzt sich das ideale Projektteam für die zweite Halbzeit zusammen? Wie haben sich die Risiken verschoben? Wo setzen wir Prioritäten? Wo liegen die Einsparpotentiale, falls uns gegen Ende die Zeit davonläuft? Beim Projektmanagement Konzept Design to Time geht es darum, alle verfügbaren Ressourcen optimal zu nutzen, um die bestmögliche Lösung innerhalb der vorgegebenen Zeit zu erreichen. Dabei geht der Blick also über das bekannte Spannungsfeld zwischen Geld, Zeit und Aufgaben hinaus. Es geht auch darum, was ein zehn Jahre dauerndes Projekt für die involvierten Menschen bedeutet.
Im Gegensatz zu anderen langjährigen Mammutprojekten, hat das Projekt ODIL einen entscheidenden Nachteil. Beispielsweise beim Bau eines grossen Gebäudes, gibt es klare Meilensteine und chronologisch aufeinander folgende Bauetappen. Eine Phase wird abgeschlossen und eine neue beginnt. Das Projekt ODIL funktioniert aber grundsätzlich anders: Jedes der 500'000 fotografischen Objekte durchläuft theoretisch den gleichen Prozess. Die Ausführung dieses Prozesses ist komplex und vernetzt, erfordert viel Erfahrung und Expertise. Dazu erfolgt sie mehrheitlich in enger Zusammenarbeit im Team. Aber nichtsdestotrotz wird im Prinzip 500'000-mal das Gleiche getan. Zehn Jahre lang… Das ist monoton und manchmal ein bisschen zermürbend. Gleichzeitig ist das Team dauerhaft enormem Zeit- und Effizienzdruck und durchgehend hohen Qualitätserwartungen ausgesetzt.
Hilft KI?
Keine Frage, dieses Projekt ist eine Herausforderung. Da drängt sich die Frage auf, ob die KI und Roboter uns diese mühselige Arbeit nicht abnehmen könnten? Wir haben es abgeklärt, zum Beispiel mit Bildanalyse Tools, die uns Doubletten finden sollen oder die Möglichkeiten von KI-generierten Bildbeschreibungen. Aber die Antwort auf die Frage lautet: Nein, das können sie nicht. Wir wenden interdisziplinäre, kollektive Intelligenz auf kooperative Weise auf einen kulturell und individuell geprägten Sachverhalt an, der gleichzeitig digital und physisch existiert. Das kann aktuell keine uns zur Verfügung stehende Technologie auf so umfassende Weise. Um die Projektziele bis 2029 zu erreichen, müssen wir also vor allem zur wertvollsten Ressource Sorge tragen, dem ODIL-Projektteam.
Der permanente Druck, die Monotonie und das latente Gefühl immer einen Schritt hinterher zu hinken, laugt uns auf Dauer alle etwas aus - so mein Eindruck. Für mich persönlich bestätigt dies einmal mehr, dass zehn Jahre Laufzeit für ein Projekt dieser Art zu lange sind. Diese Feststellung ändert zwar nichts an der Tatsache, dass wir Ende 2029 fertig sein müssen, aber sie ermöglicht einen selbstbewussteren Blick in die Zukunft oder drängt ihn sogar auf. Wir vom ODIL-Team sind keine Maschinen oder Roboter, wir brauchen aber ebenso ‘Stromquellen’, damit die Energieversorgung bis zum Projektende gewährleistet bleibt. So machen wir z.B. kleine Fotoausstellungen oder wir schreiben Blogs zum Thema Fotografie oder wir unterhalten gemeinsam einen Garten auf dem Museumsdach oder wir realisieren in Eigenregie ein Set mit Postkarten als Give-Aways. Neben all den üblichen Projektmanagement-Aufgaben ist es also auch für die nächsten fünf Jahre mein Ziel ausreichend Energiequellen für uns zu finden und den Zugang dazu zu schaffen.
Die Halbzeit dieses 10-jährigen Projekts ist für mich keine einfache Phase, das lässt sich nicht schönreden. Aber zum Glück ist dies nur ein Aspekt der Realität. Dieser Blog spiegelt einmal mehr nur meine persönliche Vogelperspektive in der Rolle als Projektleiterin. Es gibt aber noch viele weitere Facetten: So ist das Projekt ODIL auf vielen Ebenen sehr erfolgreich und lebendig - wir sind immer noch auf Kurs. Es lebt von all den grossartigen Fotografien, den Geschichten dahinter und den Menschen, die sie in die Welt tragen.
Wenn ich diese Perspektive einnehmen kann, dann erinnere ich mich auch wieder an meine fast unerschöpfliche Motivation von damals, als wir dieses Mammutprojekt aus dem Boden stampften. Zur Projektleiterin wurde ich aus reiner Notwendigkeit, aber tief im Herz bin und bleibe ich Konservatorin-Restauratorin. In dieser Rolle setze ich mich auch in Zukunft mit aller Energie für die Erhaltung unserer Fotosammlung ein.
Damit wir uns also nicht falsch verstehen: In 5 Jahren werden wir fertig sein, das könnt ihr uns glauben. ;D
Einen grosses Merci an alle, die bisher Teil von ODIL waren!
Autorin
Martha Mundschin, Konservatorin-Restauratorin Papier, Foto & AV-Medien, Museum für Kommunikation