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Was passiert mit mir, wenn ich einer von vielen bin?

Am 11. Dezember 2025 haben wir die Ausstellung «Massen – Foules – Crowds» eröffnet – eine Übernahme von der Cité des sciences et de l’industrie in Paris. Das Projekt hat meinen persönlichen Blick auf das Phänomen der Menschenmasse geschärft. Ich habe realisiert, wie oft ich im Alltag damit konfrontiert bin – und was es bei mir auslöst. Drei Beispiele aus dem gewöhnlichen Leben.

6. März 2025, Seilbahn Beckenried–Klewenalp

Ich verbringe ein verlängertes Wochenende in der Zentralschweiz, in Stans. Sehr entspannt, sonniges Wetter, schönes Zimmer, leckere Küche. Wo genau, verrate ich nicht. Sonst fahrt ihr gleich alle da hin und mit der entspannten Ruhe ist es dann vorbei. Rund um Stans stehen einige Berge rum, okay, sagen wir: Hügel, und da wir nun schon mal da sind, beschliessen wir, ein bisschen in die Höhe zu gehen. Moderat, mit einem passenden Verkehrsmittel. Unsere Wahl fällt auf die Klewenalp. Also fahren wir mit dem Postauto nach Beckenried. Dort, in der Talstation der Seilbahn, finde ich mich in einer Masse von Wintersportler:innen wieder. Damit habe ich nicht gerechnet, was natürlich reichlich naiv ist. Fassungslos starre ich auf die lange Schlange von Menschen in Funktionskleidung mit Helmen auf den Köpfen, Schutzbrillen im Gesicht, Skischuhen an den Füssen und Wintersportgeräten in allen Händen, die im Zickzack durch die unangenehm laute und kalte Wartehalle drängeln. Spontaner Reflex: auf dem Absatz kehrtmachen und das Weite (schönes Bild) suchen. Ich nehme an, das geht den meisten Menschen so. Aber die anderen scheinen das Anstehen weit weniger schlimm zu finden als ich. Für sie gehört es wohl einfach dazu. Ich hingegen stehe in dieser Betonhalle inmitten von Hunderten von Menschen, die dasselbe wollen wie ich, und alles in mir sträubt sich. Warum eigentlich? Warum dieser Widerwille, Teil der Masse zu sein? Es sind nicht nur die Drängler (die im Fall wirklich brutal nerven!) oder das unnütze Rumstehen, die Zeitverschwendung, das Gedränge, die unfreiwillige Nähe zu Fremden. Es liegt auch daran, dass ich nicht gern da bin, wo alle anderen sind. Ich will nicht dahin, wo alle hingehen. Ich will das Individuelle, das Exklusive, das Besondere. Wenn ich dieses Erlebnis mit vielen Menschen teilen muss, wird es unweigerlich zerstört. 

Natürlich bin ich mir des Widerspruchs bewusst, der in diesen Überlegungen steckt. Ich weiss, dass ich keinen Anspruch auf Exklusivität habe. Wenn ich einen Ort mit einer touristischen Infrastruktur aufsuche, trage ich potenziell zum Entstehen einer Menschenmasse bei. Es gibt ja unzählige Geschichten von Orten, die durch Influencer:innen, TV-Serien oder Videoclips von Popstars Bekanntheit erlangen und dann von unvorstellbaren Menschmassen geflutet werden. Alle wollen das Einzigartige erleben. Und dann stellen sie ihr ganz persönliches, individuelles Selfie davon online («Ich war da!») und tragen so zum anhaltenden Tourismustsunami bei. Ungut. Wie auch immer. In der Talstation der Klewenalpbahn beschliessen wir: Das geben wir uns jetzt! Ich zwänge mich mit sechzig anderen in die Seilbahnkabine, fahre, in eine kompakte Menschenmasse gepfercht, nach oben, blicke von der Bergstation über den Vierwaldstättersee, wende mich um und gucke ins Skigebiet, wo es wie in einem Ameisenhaufen wimmelt. Dann hole ich im Selbstbedienungsrestaurant Pommes-Frites und Rivella, setze mich ins Gedränge auf der Terrasse und stelle mich schliesslich wieder in die Schlange für die Talfahrt. So muss das sein. Und da wir schon mal dabei sind, geben wir uns auch gleich noch das Kursschiff nach Vitznau-Weggis-Luzern. Wir ergattern ein Tischchen im Treppenhaus – der Kahn von der Grösse eines kleineren Kreuzfahrtschiffes ist tatsächlich mit einer grosszügigen Wendeltreppe ausgestattet, was die Hundertschaften von asiatischen Tourist:innen aber nicht weiter beeindruckt – trinken einen lauwarmen Café Crème und erhalten eine Ahnung davon, was Overtourism ist. Wir sind Teil davon. Das ist ein bisschen deprimierend und kein schönes Gefühl. 

Dank der Ausstellung weiss ich mittlerweile: Das Entscheidende an einer Menschenmasse ist nicht die Anzahl Menschen, sondern die Dichte. Und die ist in einer Seilbahntalstation mit vier bis fünf Personen pro Quadratmeter hoch. Meine negativen Emotionen sind also keine grosse Überraschung. Je grösser die Dichte, umso übler die Laune. Ab sieben Menschen pro Quadratmeter kann’s übrigens gefährlich werden. Davon waren wir zum Glück noch ein gutes Stück entfernt.

Blick auf den Boden, auf einem Teppich laufen viele Besuchende. Es sind viele verschwommene und laufende Beine zu sehen - vergrösserte Ansicht
Massen treffen wir im Alltag regelmässig an – etwa an einem Regensonntag im Museum für Kommunikation. (Bild: Fabio Gaiardo)

16. Juni 2025, Check-in Eurostar, Gare du nord, Paris

Es geht nicht voran. Mit vielen Wartenden und noch mehr klobigen Rollkoffern stehe ich in einer Zweierreihe zwischen den blauen Absperrbändern und komme keinen Schritt voran. Die Menschenschlangen links und rechts von mir bewegen sich schubweise vorwärts, wir hier in der Mitte stecken fest. Vorn rufen zwei Beamte in blauen Uniformen Anweisungen in Französisch und Englisch in die Menge und hängen pausenlos die Absperrbänder um. Vielleicht tun sie das gemäss einer logischen Abfolge, vielleicht ist es blosse Willkür. Ich fühle mich ausgeliefert, wie ein Stück Vieh. Endlich befinde ich mich ganz vorn in der Reihe. Ich warte, bis die Beamtin das blaue Band umhängt und mir den Weg weist. Zuerst kommt die Ticketkontrolle. Ich halte den Code gemäss Anweisung vor den Scanner und die Schranke öffnet sich. Die erste Hürde ist geschafft. Weiter zur Sicherheitskontrolle mit Gepäck- und Körper-Scan. Dort wird’s hektisch: Die Beamten treiben uns zur Eile an. Schlüsselbund, Smartphone, Tablet, Münzen, Fingerringe, Armbanduhr gehören in die Plastikwanne. Auch die Jacke und der Gürtel müssen da rein. Zuletzt der schwere Koffer aufs Förderband. Auf Kommando der Beamtin gehe ich durch den Scanner. Es ist ein bisschen erniedrigend, wenn man beim Gehen die Hose festhalten muss, damit sie nicht runterrutscht. Immerhin muss ich nicht auch noch die Schuhe ausziehen. Auf der anderen Seite ist die Hektik noch grösser, alles muss wieder sauber verstaut und hergerichtet werden. Ich nehme mir vor, beim nächsten Mal auf den Gürtel zu verzichten und eine Hose anzuziehen, die sitzt. 

Nun stehen die Personen- und die Zollkontrolle an. Das läuft alles vollautomatisch – zumindest in der Theorie. Doch offensichtlich kann diese bekloppte Maschine nichts mit meinem Pass anfangen «Do it again», befiehlt der Beamte hinter mir mehrmals. Es klappt nicht. Ich halte den gesamten Betrieb auf und fühle die genervten Blicke der Wartenden in meinem Nacken. Schliesslich werde ich zu einer Beamtin in beeindruckender Grenzschutzuniform zitiert. Sie blickt streng in meinen Pass, dann in mein Gesicht, und erklärt, das liege an der grossen Brille auf meiner Nase. Die fehle auf dem Passfoto, womit der Scanner selbstverständlich überfordert sei. Nach ein paar Fragen zu meinen Reiseabsichten wünscht sie mir einen angenehmen Aufenthalt im Vereinigten Königreich und lässt mich passieren. Geschafft! Ich bin erleichtert, dass ich alle Kontrollen hinter mir habe. Gleichzeitig halten sich die negativen Gefühle bei mir in Grenzen – was mich, ehrlich gesagt, selbst erstaunt. Warum stellen sich nicht dieselben Gefühle wie in der Talstation der Klewenalpbahn ein? Vielleicht ist es so: Jeden Tag fahren rund 40'000 Passagiere mit dem Eurostar durch den Tunnel zwischen Frankreich und Grossbritannien. Um eine solche Menschenmasse durch dieses Nadelöhr zu schleusen ist ein strikt kontrollierter, effizient gesteuerter Prozess doch recht hilfreich. Das leuchtet mir ein. Noch etwas anderes hilft mir dabei, diese Tortur zu ertragen: Ich finde es cool, dass ich mit der Bahn reise und nicht den Flieger nehme (was billiger wäre). Ich bin ein bisschen stolz auf mich. Und da ich mir vor ein paar Jahren vorgenommen habe, die Anreise als Teil der Ferien zu begreifen und nicht als lästige Pflicht, wird das zwiespältige Massenerlebnis in der Gare du Nord zum ersten Abenteuer meines Trips. 

In Massen – Foules – Crowds erinnere ich mich wieder daran. An einer interaktiven Station geht es darum, einen Saal in zwei Minuten notfallmässig zu evakuieren. Auf einem Grundriss kann ich Ausgänge platzieren, Durchgänge verbreitern und Einrichtungselemente aufstellen, um die Menschenmasse schneller aus dem Gebäude zu bekommen. Gar nicht so einfach, denn es zeigt sich auch hier – die Masse verhält sich nicht immer wie erwartet und ist manchmal zäh wie Melasse. 

Blick auf den Vorplatz vom Museum für Kommunikation aufgenommen vom Dach. Es ist Nacht und eine grosse Masse an Menschen stehen und sitzen vor dem Museum.
Blick in die Kernausstellung im Museum für Kommunikation. Sehr viele Besuchende die sich das Museum anschauen.
Blick aufs Museum für Kommunikation. Es ist Nacht und das Museum wird beleuchtet. Vor dem Museum stehen viele Menschen die eine Menschenmasse ergeben.

6. Juli 2025, Schweiz–Island, Euro 2025, Wankdorf-Stadion

Ein Freund hat mir zwei Tickets angeboten. Zuerst habe ich gezögert. Ein Heimspiel in einem vollbesetzten Stadion zu verlieren ist hart. Ich weiss das aus eigener Erfahrung. In den Vorbereitungsspielen haben die Schweizerinnen nicht gerade brilliert. Ins Turnier sind sie mit einer 1:2-Niederlage gegen Norwegen gestartet, und wenn sie gegen Island nicht punkten, sind sie praktisch schon ausgeschieden. Will ich mir das wirklich antun, zusammen mit 30'000 anderen? Aber kneifen geht ja wohl auch nicht, schliesslich findet die Fussball Europameisterschaft nicht allzu oft vor der eigenen Haustür statt. Also ab zum Stadion. Es wimmelt von Menschen in Rot und Weiss. Die Stimmung ist positiv aufgeladen, fast knisternd. Spannung und Vorfreude liegen in der Luft. Das wirkt ansteckend. Von meinem Platz aus habe ich das gesamte Stadion im Blick – einmal mehr bin ich beeindruckt von dieser Arena. Hier gibt es nur den Fussball, alles andere ist wie ausgeblendet. Das Stadion füllt sich schnell, die Spannung wächst. Jubel brandet auf, als die Teams aufs Feld kommen. Dann die Nationalhymnen. 30'000 Menschen erheben sich, rund um mich singen sie lauthals mit. Ich passe, ich fühle mich nicht ganz textsicher. Dann, endlich, der Anpfiff. Jetzt gilt’s. Nach 46 Sekunden knallt eine Isländerin den Ball an die Latte des Schweizer Tors. Oh Gott, wenn das bloss gut geht. Es entwickelt sich ein attraktiver, abwechslungsreicher Match. Nach einer halben Stunde gehen die Schweizerinnen in Führung – aber das Tor wird wegen eines Fouls annulliert. Aus dem isländischen Sektor gegenüber ertönen die wohlbekannten «Hu!»-Rufe. Das Ritual, das an der Männer-Euro 2016 noch für Furore sorgte, verklingt hier im Wankdorf schnell. Die Gäste in Blau haben keine Chance gegen das rot-weisse Heimpublikum. Die Stimmung ist wirklich mitreissend. Kurz vor Ende der ersten Halbzeit rollt zum ersten Mal La Ola durch die Zuschauerränge. Das habe ich befürchtet. Eine Unsitte, finde ich, die in der Regel nur an Länderspielen vorkommt. Da mache ich nicht mit – lasse mir die gute Laune aber auch nicht verderben. Zur Pause steht es immer noch 0:0. Ein kühles Bier trinken, etwas runterkommen. 

Seitenwechsel, nun spielen die Isländerinnen in unserer Hälfte des Stadions. Sehr gut, sage ich mir, so kann ich die bevorstehenden Tore der Schweizerinnen gut sehen. Denn die müssen jetzt fallen! Das Spiel wogt hin und her. Wieder ein Lattentreffer von Island, diesmal nur gestreift, aber trotzdem gefährlich. «Los itz, Froue! Chömet!» In der 76. Minute fängt Lia Wälti einen Abstoss der isländischen Torhüterin ab, und dann geht es schnell. Steilpass auf Sydney Schertenleib, sie spielt den Ball in den Lauf von Géraldine Reuteler und die schliesst eiskalt ab. 1:0 für die Schweiz! Es reisst alle von den Sitzen. Wir brüllen wie die Verrückten. Auch ich! Die totale Masseneuphorie. Sowas hab ich echt schon lange nicht mehr erlebt – vielleicht noch nie. Wir feuern die Schweizerinnen weiter an, diesen Sieg wollen wir uns jetzt nicht mehr nehmen lassen. Tatsächlich: Kurz vor Spielende macht Ayalah Pilgrim mit dem 2:0 alles klar. Ich kann sagen: In einem vollbesetzten Stadion zu gewinnen, ist der Hammer! Und unter diesen Umständen stört es mich kein bisschen, dass ich hier einer von vielen bin. Im Gegenteil: Ich bin dabei! Ich erlebe diesen grossen Moment mit! Diese Begeisterung, diese Zusammengehörigkeit, diese Verbundenheit mit dem tollen Team da auf dem Rasen. Ich bin überwältigt, und glücklich, dass es so ist. Ganz klar, jetzt möchte ich an keinem anderen Ort der Welt sein. 

Es ist schon interessant. Eine Menschenmasse ist längst nicht nur mühsam und beängstigend, weil sie mit Kontrollverlust verbunden ist und ich mich machtlos und ausgeliefert fühle. Sie ist auch euphorisierend und motivierend, kann mich richtig glücklich machen. Je nach Situation wecken Menschanmassen Gefühle in die eine oder die entgegengesetzte Richtung. Das ist kein Widerspruch, sondern die faszinierende Eigenart. Genau das zeigt auch die Ausstellung Massen – Foules – Crowds: die Vielfalt des Phänomens. Und ganz nebenbei lernen wir Strategien, wie wir besser mit Menschenmassen zurechtkommen.

 

 

Autor

Ueli Schenk, Ausstellungen, Museum für Kommunikation, Bern

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