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Mehr Beat als Bibliothek

Erinnern Sie sich noch, wie es war, als Sie zum ersten Mal «richtig» in den Ausgang gegangen sind? Ohne Erwachsene? Denken Sie vielleicht an die Aufregung oder daran, dass es genau die richtigen Kleider sein mussten? Oder an die eine Person, die man unbedingt antreffen wollte? Vielleicht hatten Sie auch ein bisschen Angst, dass es so richtig peinlich wird? Ausstellungsmacherin Alexandra Heini schweift tänzerisch durch die Jahrzehnte und spürt Jugendkulturen nach.

Als wir die Ausstellung DANCE! vorbereiteten, war die erste Reaktion auf das Thema häufig, dass mir Leute von ihren ersten Partyabenden erzählt haben. Dabei hörte ich von Spielen wie dem Orangentanz im Skilager, welcher der Erzählerin unglaublich unangenehm war. Eine andere Geschichte drehte sich um einen abenteuerlichen Ausriss von zu Hause über den Balkon, gefolgt von einer Fahrt mit dem Traktor an die Chilbi ins nächste Dorf und ein elterliches Donnerwetter am Morgen danach – zwischendrin gab es einen Discofox mit der Angebeteten. Bestimmt haben Sie auch eine solche Geschichte auf Lager.

tanzen – testen – dazugehören 

Ausgehen ist Teil des Erwachsenwerdens. Wenn Jugendliche tanzen gehen, machen sie vielfältige Erfahrungen. Sie erleben Freiheit und drücken sich durch Bewegung aus. Sie lassen Emotionen fliessen und entdecken neue Seiten an sich selbst. Die Musik und das Nachtleben bieten ihnen einen Ausbruch aus dem Alltag, einen Kontrast zum schulischen Druck oder familiären Erwartungen. Gleichzeitig testen viele ihre Grenzen aus, probieren Neues, machen Erfahrungen mit Müdigkeit, Lautstärke oder Alkohol. Tanzen kann auch ein Raum für Nähe und erste zwischenmenschliche Begegnungen sein, für Flirts, Freundschaften oder das Verliebtsein. Denn: Tanzen ist ein sozialer Akt!

Beim Tanzen entsteht oft ein Gefühl von Gemeinschaft. Man begegnet anderen, teilt den Rhythmus, fühlt sich verbunden, auch ohne viel zu reden. Je nachdem, wo und mit wem man tanzen geht, schliesst man sich auch einer Szene oder einer Jugendkultur an. All das prägt die Identität und erweitert den Erfahrungshorizont von Jugendlichen. Schon für frühere Generationen war das Tanzen wichtig. Im 20. Jahrhundert wurde Tanz zunehmend zum Ausdruck jugendlicher Subkultur und Rebellion. Vom Swing der 1930er, zum Rock’n’Roll der 1950er bis zum Punk der 1970er-Jahre – immer wieder nutzten Jugendliche neue Tanzstile, um sich von den Konventionen der Elterngeneration abzugrenzen.

Blick in die Ausstellung DANCE im Museum für Kommunikation: Vor einer Wand mit dem Titel "Geschichten" und vielen Fotos sitzen und stehen mehrere Personen und studieren die Inhalte. - vergrösserte Ansicht
Besuchende der Ausstellung DANCE! betrachten Bilder zu Jugendkultur und Tanz über die Jahrzehnte.

Jugend in Baden, 1969

Tanzen gehen zu können, war auch verknüpft mit dem Bedürfnis nach Freiräumen, wie eine Geschichte von 1969 erzählt. Damals erschien in der Zeitschrift «Annabelle» eine Reportage-Reihe unter dem Titel «Interview mit der Jugend». Die Journalistin Eleonore von Planta führte die Interviews. Die Fotografien stammen von Eric Bachmann. Das Ziel der Reihe war, das Leben der Jugend kennen zu lernen. Die Folge über die Jugend in Baden (AG) dreht sich immer wieder ums Tanzen – ein roter Faden, der auch in den Berichten aus anderen Orten immer wieder auftaucht. 

Der Bericht beginnt mit pointierten Aussagen: «Baden ist eine Bünzlistadt» und «Bei uns ist nichts los!». Das ist etwas, dass man offensichtlich schon lange von Jugendlichen in kleineren Städten oder auf dem Land hört. Doch das Reporter:innen-Duo sucht nach Orten, wo doch etwas läuft und stösst auf das Jugendhaus im Kornhaus, das 1965 eröffnet wurde. 

Freiräume – aber bitte pädagogisch wertvoll

Ab den 1960er Jahren ergriffen viele Gemeinden Initiativen in der Jugendarbeit. Sie ist Teil einer sich wandelnden Sozialpolitik. Von einer von Bildung und Sozialer Fürsorge geprägten Haltung entwickelte sie sich hin zu einer bedürfnisorientierten Politik, die die Jugend als eigene Lebensphase anerkannte. Hier war die Erkenntnis zentral, dass nicht nur die Bildung und Berufsausbildung, sondern auch die Freizeit für die Entwicklung junger Menschen eine wichtige Rolle spielen. In Baden wurde also mit viel pädagogischem Eifer, aber auch unter Mitwirkungen der Jugendlichen, ein Ort mit Freizeitangeboten für die Jugend eingerichtet. Es gab Hobby-Werkstätten mit Kursen, ein Theater im Keller (nicht nur für Jugendliche) und zwei Stockwerke, wo man sich treffen und Veranstaltungen organisieren konnte. 

Auch ein bekanntes Phänomen: In Baden beklagen sich die im Jugendhaus engagierten Erwachsenen über die mangelnde Eigeninitiative der Jugendlichen. So sagt der junge Lehrer Fredi: «Die Jungen interessieren sich nur für Beat – nicht, dass ich etwas gegen Beatmusik oder Tanz hätte, aber es gibt doch noch andere Möglichkeiten, seine Freizeit zu verbringen. Unserer Bibliothek zum Beispiel wird nur sehr geringes Interesse entgegengebracht. […].». So ganz stimmt das nicht, denn es gab durchaus auch eine Diskussionsgruppe oder einen italienischen Filmclub im Kornhaus, wie die Jugendlichen selber erzählen. Aber das Problem scheint klar: Was den Jugendlichen Spass macht und was die Erwachsenen für sinnvoll halten, das sind zwei unterschiedliche Geschichten. Die Frage, wie viel Autonomie den Jugendlichen gewährt werden sollte, war denn auch schweizweit ein ständiges Thema in der Jugendarbeit. Es sorgte bis in die 1980er immer wieder für Auseinandersetzungen.

Bachmanns Bilder vom Tanzabend zeigen ein vielfältiges Bild. Die soziale Komponente kam durchaus zum Tragen an den Beatabenden im Kornhaus. Wir sehen Interaktion, Freude, Rumgeknutsche, Rumalbern…etwas das wohl immer wichtig für Jugendliche ist und vielleicht für die Kamera an diesem Abend etwas übertrieben wurde. Der grössten Hits im Jahr 1969 waren übrigens «Ob-La-Di-Ob-La-Da» von den Beatles, «Sweet Caroline» von Neil Diamond und «Honky Tonk Women» von den Rolling Stones. Dies war also die Musik, welche die Jugendlichen hören wollten und die für Lehrer Fredi weniger Bildungsgehalt hatte als die Bibliothek. Weil die Fotografien wunderbar zeigen, wie wichtig das Tanzen für Jugendliche ist, ist nun eine Auswahl in der Ausstellung DANCE! zu sehen – eingereiht in ein Panorama von Jugendkulturen von 1920 bis 2025.

Historische Schwarz-weiss-Aufnahme: Im Vordergrund eine junge Frau und ein junger Mann in Tanzbewegungen, dahinter mehrere andere junge Tanzende.
Historische Schwarz-weiss-Aufnahme: Ein Paar tanz eng umschlungen, sich küssend. Im Hintergrund sitzen andere auf Stühlen an der Wand.
Historische Schwarz-weiss-Aufnahme: Blick von oben auf die Tanzfläche, wo junge Menschen tanzen. Einige sitzen auf Stühlen am Rand.
Historische Schwarz-weiss-Aufnahme: Zwei junge Frauen absorbiert am Tanzen.
Historische Schwarz-weiss-Aufnahme: Eine junge Frau und ein junger Mann in lockerem Tanzschritt. Im Hintergrund die historischen Gemäuer des Kornhauses.n ein Mann
Historische Schwarz-weiss-Aufnahme: Vier Personen tanzen der Kamera entgegen, welche das Bild vom Boden her aufnimmt. Im Hintergrund sind die alten Balken des Gebäudes zu sehen.
Historische Schwarz-weiss-Aufnahme: Ein junger Mann und eine junge Frau stehen an einem Geländer, in vertrautem Gespräch. Er legt ihr die Hand auf die Schulter.

Die 1980er und 1990er brachten mit Hip-Hop und Breakdance weitere Bewegungsformen hervor, die stark mit städtischer Jugendkultur, sozialer Resilienz und kreativer Selbstermächtigung verbunden waren. Sébastien Boucher, einer der ersten Hip-Hop-Tänzer in der Schweiz erzählt in unserer Ausstellung davon, wie ihn das Gefühl der Gemeinschaft beim Tanzen und im Kreis zutiefst beeindruckte. Bizzy B (bürgerlich Xenia Gomes) berichtet, wie sie sich als Frau in der Breaking-Scene behaupten musste – zwei von vielen Themen, die Protagonist:innen und Expert:innen verschiedener Jugendkulturen zu DANCE! beigetragen haben.

In der Gegenwart hat sich Tanz nochmals gewandelt. Digitale Plattformen wie TikTok haben die Zugänglichkeit zu Tanz enorm erhöht. Jugendliche inszenieren sich, lernen voneinander und vernetzen sich über Ländergrenzen hinweg. Tanzen war und ist ein Medium, durch das Jugendliche sich ausdrücken, entwickeln und gesellschaftlich positionieren. Dabei ändert sich die Form – doch die Funktion bleibt überraschend konstant: Tanzen verbindet – als Brücke zwischen Körper, Geist, Gesellschaft und Kultur. 

…nicht nur für Menschen zwischen 13 und 18. Gehen Sie doch mal wieder aus!

Autorin

Alexandra Heini, Ausstellungen, Museum für Kommunikation, Bern

Dank

Herzlichen Dank an Dominic Bachmann, der die Geschichten aus Baden und die Fotografien vermittelt hat.

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