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Die exakte Zeit

Die Zeit ist die Taktgeberin unseres Alltags. Mit der Telegrafie und der Eisenbahn benötigt die zunehmend vernetzte Welt ein einheitliches Zeitsystem. 1894 wird in der Schweiz die mitteleuropäische Zeit eingeführt. Die Bestimmung der genauen Zeit ist die Kernkompetenz des Observatoriums Neuenburg. Für die Übermittlung der dort definierten Zeit sind die Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe (ab 1928 PTT) zuständig. Als eine Art Service Public werden die Sprechende Uhr und das Zeitzeichen am Radio unterhalten. Bis Ende der 1990er Jahre vermittelt der Staatskonzern die exakte Zeit und hält die Schweiz im Takt. 

Zeitsysteme sind bis weit ins 19. Jahrhundert hinein regional unterschiedlich und richten sich nach dem Sonnenaufgang und -untergang sowie nach dem Sonnenhöchststand um die Mittagszeit. Mechanische Uhren werden nach Sonnenuhren gerichtet. Insbesondere in ländlichen Gebieten rhythmisiert das Glockengeläut grob den Tag. Zur zeitlichen Orientierung hilft manchmal auch eine Landmarke. Bergnamen wie «Dents du Midi» weisen noch heute darauf hin. Steht die Sonne über dem Berg, ist Mittag. Katholische Gebiete praktizieren morgens, mittags und abends das Angelusläuten. Die Glocke gibt das Signal für ein kurzes Gebet und strukturiert den Alltag. An Sonn- und Feiertagen befiehlt die Glocke die Gläubigen in die Kirche. Raum und Zeit werden dem kosmischen Rhythmus angepasst – im Sommer dehnen sich die Stunden, da die Sonne viel länger am Himmel steht. Auch das eigene Leben wird vom Glockengeläut der lokalen Kirche in Abschnitte eingeteilt. Wie der französische Historiker Alain Corbain im Buch «Die Sprache der Glocken» ausführt, begleitet Glockengeläut Übergangsriten wie die Geburt, den Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein (Firmung, Konfirmation), die Schliessung der Ehe und schliesslich das Begräbnis. Vereinfacht gesagt ist die Kirche Herrin der Zeit.

Schwarz-weiss-Fotografie mit Feldweg und Wiesen, im Hintergrund Häuser und Berge. - vergrösserte Ansicht
Bergnamen wie «Mittaghorn» oder «Dents du Midi» verweisen auf die historische Bedeutung des Sonnenstands für die Tageseinteilung. Im Alpenraum dienen Berggipfel zur archaischen Bestimmung der Mittagszeit. Steht die Sonne über einem bestimmten Gipfel, ist Mittag.
Quelle: Splügen mit Einshorn um 1935, Fotograf Alfred Lindenmann, Museum für Kommunikation Bern, LIN_04395.

Dieser qualitativ «gefühlten» Zeit erwacht mit der zunehmend präzisen mechanischen Uhr eine quantitative Konkurrenz. Die Einführung der gemessenen Zeit erfolgt langsam und lange existieren unterschiedliche Zeitsysteme nebeneinander. Kirche und Klerus sehen in der unerbittlich exakten Zeit eine Konkurrenz, da sie zur Desakralisierung des Tages führt. Die Jahrzehnte nach der französischen Revolution sind von entsprechenden Rückzugsgefechten geprägt. Die Kirche versucht noch ihre Herrschaft über die Zeit zu wahren – steht aber ab Mitte des 19. Jahrhundert als Verliererin da. Das Zifferblatt der präzisen mechanischen Uhr, oft gleichwohl noch am Kirchturm angebracht, löst die Glocke als primäre Zeitreferenz ab. Kommt hinzu, dass sich die Klangwelt ändert. Lange ist in Friedenszeiten die lokale Glocke das lauteste menschgemachte Geräusch. Mit der Industrialisierung wird die Welt lärmig – das Keuchen der Dampfmaschine, ratternde Verbrennungsmotoren und die Fabriksirene prägen das neue alltägliche Klangpanorama mit. Zeitliche Orientierung im Krach bieten jetzt Taschenuhren. Diese werden nun teilweise industriell gefertigt und sind ab 1870 für Arbeiter:innen zunehmend erschwinglich. Die Bemeisterung der Zeit wird für das Individuum möglich. Mit dem Kauf einer Uhr lässt sich die Zeit- und Pünktlichkeitsdisziplin des Fabrikzeitalters verinnerlichen. Damit wächst aber auch das Bewusstsein für Forderungen nach der Begrenzung der Arbeitszeit. Das Glarner Fabrikgesetz von 1864 legt noch zwölf Stunden Arbeit pro Tag fest. Nach dem Ersten Weltkrieg hat sich die Forderung der Gewerkschaften nach acht Stunden Arbeitszeit pro Tag vielerorts durchgesetzt. 

Zeitvermittlung über Telegrafenleitungen

Die beiden grosstechnischen Systeme Telegrafie und Eisenbahn lassen sich kaum mit unterschiedlichen lokalen Zeitsystemen betreiben. Um ein schweizerisches Raum-Zeit-Delirium zu verhindern, verfügt der Bundesrat 1853 für den Post- und Telegrafieverkehr die Lokalzeit von Bern als Einheitszeit. Auch der Betrieb der Eisenbahnen richtet sich nach Bern. Der Eisenbahnbau setzt in der Schweiz verspätet ein. Es ist damit die Telegrafie, welche hierzulande die Einheitszeit vorwärtstreibt. Die staatliche Post- und Telegrafenverwaltung, die spätere PTT, übernimmt in der Eidgenossenschaft die Kontrolle über die Einheitszeit. Auf internationaler Ebene bestehen ähnliche Probleme – die zunehmend globalisierte Welt braucht Takt, Takt, Takt. Die Konferenz von Washington einigt sich 1884 auf den Nullmeridian von Greenwich und bereitet so die weltweite Einführung der Stundenzonenzeit vor. In der Folge führt der Bundesrat 1894 die mitteleuropäische Zeit ein und die ganze Schweiz richtet sich erstmals nach einem einheitlichen Zeitsystem. Nun laufen die Uhren der Eisenbahn und Post synchron mit denen der Kirchtürme. Der Zeit-Föderalismus findet sein Ende – die Welt läuft im Einheitstakt. Damit übernehmen die Staaten und deren Telekommunikationsnetzwerke definitiv die Herrschaft über die Zeit und über die Zeitvermittlung. 

Grundsätzlich gilt es aber zuerst einmal die genaue Zeit zu bestimmen. Dafür ist der Blick ans Firmament nötig. Mit dem Teleskop werden Meridiandurchgänge bestimmter Sterne beobachtet. Ab 1860 ist die Bestimmung der genauen Zeit die Kernkompetenz des Observatoriums Neuenburg. Hier werden hochpräzise Pendeluhren nach dem Gang der Sterne und der Erdrotation gerichtet. Die kantonale Sternwarte in Neuenburg entsteht aus dem Bedürfnis der Uhrenindustrie im Jurabogen und macht eine Art Standortförderung. Für die Entwicklung genauer Uhren bedarf es einer Zeitreferenz, mit dem der Gang der Werke überprüft werden kann. Übermittelt wird das Zeitzeichen via Telegrafenleitung über Mittag, da um diese Zeit die Nachfrage beim Telegrammverkehr gering ist. Die Uhrmacherschulen und die Uhrenfabriken bezahlen für die genaue Zeit aus Neuenburg einen bescheidenen Betrag. Die PTT nutzt das Zeitsignal kostenlos und verrechnet dem Observatorium Neuenburg jährlich ein paar hundert Franken für die Nutzung der Leitungen. 1927 denkt die Telegraphenverwaltung darüber nach, dem Observatorium die Gebühr von 253 CHF (ca. 2000 CHF von 2025) zu erlassen, da die PTT selbst auch Nutzniesser der genauen Zeit aus Neuenburg ist. 

Nach dem elektrischen Zeitsignal aus Neuenburg, das in Echtzeit durch die Telegrafenleitungen fliesst, werden in Poststellen, Telegrafenämtern und Bahnhöfen die Mutteruhren gerichtet. Letztere bilden das Herz von lokalen Uhrenanlagen, welche über eine präzise Mutteruhr gesteuert werden. Während die Genauigkeit des Observatoriums Neuenburg bereits im Bereich von Hundertstelsekunden liegt, dürfte die über die ganze Schweiz verteilten Mutteruhren eine Präzision von wenigen Sekunden erreicht haben. Grössere elektrische Uhrenanlagen richten sich selbstständig nach dem elektrischen Signal des Telegrafen. Durch komplexe Mechanismen wird das Vor- oder Nachgehen korrigiert.

Der deutsche Uhrmacher und Elektriker Matthias Hipp (1813-1893) hat am Erfolg der elektrisch gesteuerten Uhr grossen Anteil. Die Basis seiner Idee ist es, das mechanische Pendel der Uhr durch elektromagnetische Impulse in konstanter Bewegung zu halten. Nach einer Zwischenstation als Chefbeamter der Eidgenössischen Telegraphenwerkstätte in Bern, spezialisiert sich der Erfinder in Neuenburg ab 1860 auf den Bau von Messgeräten und elektrischen Uhren. Die «Fabrique de Télégraphes et d’Appareils électriques», die spätere FAVAG, liefert elektrisch gesteuerte Uhrensysteme für Rathäuser, Stadtplätze, Bahnhöfe, Postgebäude, Hotels und Fabriken. Die Uhrensysteme aus Neuenburg lassen in der Schweiz und vielen Städten Europas das Zeitalter der Gleichzeitigkeit anbrechen. Kultig ist das Design der 1947 eingeführten SBB-Bahnhofsuhr des Herstellers Moser-Baer. Insbesondere der schleichende Sekundenzeiger mit dem Minutensprung ist praktisch. Danach lässt sich die eigene Armbanduhr präzise richten und ein Blick auf die SBB-Uhr verrät sofort, ob ein ambitionierter Sprint oder lässiges Gehen für das Erreichen des Zuges angesagt ist. Im Hintergrund mischt auch hier die PTT mit. Wie das SBB-Reglement über die Nachrichtenübermittlung von 1928 verrät, ist für die tägliche Vermittlung des Zeitzeichens die «eidgenössische Telephonverwaltung» zuständig. Auch bei der PTT selber ticken tausende von Uhren. Vermittlerschränke, an denen Telefonistinnen händisch Anrufe vermitteln, verfügen immer über eine Mutteruhr und über mehrere Stoppuhren. Es gilt die Gesprächszeiten für die Telefonrechnungen festzuhalten. Bis in die 1970er Jahre hinein kommen hierfür mechanische Uhren zum Einsatz. Hauslieferant für die PTT ist die Uhrenmanufaktur Zenith in Le Locle. 

Ein historischer Stadtplan von Biel, darauf eingetragen eine Telegrafenlinie zur Uhrmacherschule. - vergrösserte Ansicht
Als eine Art Standortförderung für die Uhrenindustrie versorgt das Observatorium Neuenburg ab 1860 Uhrenfabriken und Uhrmacherschulen mit der genauen Zeit. Über Telegrafenleitungen wird das Zeitsignal elektronisch vermittelt. Die Karte zeigt die Planungen für den Anschluss der Uhrmacherschule Biel ans Telegrafennetz.
Quellen: PTT-Archiv Köniz, PTT-Archiv T-00 A_0166_1876.

Die Sprechende Uhr und der Weckdienst 

Nach dem Ersten Weltkrieg werden Taschen- und Armbanduhren sowie Wecker zu alltäglichen Gebrauchsgegenständen. Deren mechanische Uhrwerke laufen noch nicht sehr präzise und müssen ab und an gerichtet werden. Dafür bietet die PTT ab 1935 einen Service Public der Genauigkeit an. Über die Dienstnummer 16 (später 161) kann die «Sprechende Uhr» konsultiert werden – die genauen Zeitangaben fliessen durch die kupfernen Telefonleitungen der PTT. Die Zeitansage startet jeweils mit «Beim nächsten Ton ist es…». Die 1933 im Pariser Telefonnetz eingeführte Erfindung basiert auf dem Tonfilmprinzip – dabei lesen Fotozellen die gespeicherten Tonaufnahmen von Stunden, Minuten und Sekunden ab. Die erste Generation der sprechenden Uhren stammt dann auch als Frankreich. Zwischen 1935 und 1956 sind drei Uhren des Herstellers Brillié im Einsatz. Die erste Sprechende Uhr der Schweiz steht in Genf und spricht französisch. Für einmal bezieht sie die genaue Zeit nicht aus Neuenburg, sondern von der Genfer Sternwarte. Noch 1935 kommt eine deutschsprechende Uhr in Bern dazu. Die italienisch sprachige Schweiz muss sich hingegen gedulden. «Der Fortschritt macht auch vor dem pittoresken Süden nicht halt: Der Tessin hat nun auch seine sprechende Uhr erhalten», so die Schweizer Filmwochenschau im Jahr 1942. 1957 zentralisiert die PTT die zweite Generation der sprechenden Uhren in Bern. Basis für die genaue Zeitangaben ist nun wieder das Observatorium in Neuenburg sowie zusätzlich die Sternwarte in Genf. Erst 1987 beherrscht die Sprechende Uhr auch die vierte Landessprache Rätoromanisch. Die Sprechende Uhr bleibt lange sehr populär. Noch für das Jahr 1992 vermeldet die NZZ über 22 Millionen Anrufe! Einen Nachfragehöhepunkt nach der genauen Zeit dürfte ab 1981 jeweils die Winter- und Sommerzeit Umstellungen ausgelöst haben. Unter der Telefonnummer 0900 161 161 bietet die Swisscom noch heute eine gesprochene Zeitansage an. Kostenpunkt der Dienstleistung: 50 Rappen pro Anruf.

Historische schwarz-weiss Fotografie mit einem Raum, in dem zwei Kommodengrosse Holzapparate stehen, oben geöffnet - es sind Walzen und Drähte sichtbar.
Schwarz-weisse Fotografie eines Schaufensters mit mehreren grossen Fotoabzügen und einem Telefon im Zentrum.
Ein historisches Dokument: Oben steht gross "Bericht". Es geht um den Antrag Sprecher:innen für die sprechende Uhr in Rätoromanisch zu suchen.

Ein besonderes Disziplinierungsangebot hat die PTT seit den späten 1920er Jahren im Angebot. Über die Auskunft mit der Nummer 11 (später 111) können sich Morgenmuffel vom Staatsbetrieb aus dem Bett läuten lassen. 1941 kostet dieser Dienst 20 Rappen pro Weckanruf oder im Monatsabo zwei Franken. Wobei ein Franken teuerungsbereinigt ca. 6 CHF von 2025 entspricht. Das Oberländer Tagblatt aus Thun meint 1942, dass der Service so populär sei, «dass man glauben könne, die Uhrenfabriken lieferten keine Wecker mehr». Laut der Zeitung werden in Bern pro Jahr 45'000 Weckaufträge ausgeführt. 1965 bekommt der Weckdienst mit der Dienstnummer 166 eine eigene Nummer und der Service wird laut der NZZ zunehmend automatisiert. Wird schlaftrunken der Hörer abgenommen, so ist die Sprechenden Uhr zu vernehmen und nicht mehr die Stimme einer Telefonistin, die sagt «guete Morge, ‘s isch Halbi sibni». Im Jahr 1966 weckten die Telefonistinnen der Telefondirektion Zürich täglich noch über 5000 Telefonabonnent:innen persönlich! Wird der Anruf nicht beantwortet, so folgen zwei weitere Weckversuche, Die PTT betreibt hier also eine Art «Snooze»-System avant la lettre.   

Ein historisches Plakat: Unten gelb, oben schwarze Nacht, in der ein weisser Hahn steht der kräht. Unten der Text: Nr. 11 weckt Sie pünktlich.
Schwarz-weiss-Aufnahme eine Frau, die im Bett aufsitzt mit dem Telefonhörer in der Hand.
Schwarz-weiss-Fotografie eines antiken Schlafzimmers: Noble Bettstatt mit Vorhängen am Kopfteil und integrierten Nachttischchen zu jeder Seite.
Historische Aufnahme eines Schaufensters mit einer Ferienlandschaft und einem Schild: Telephon Nr. 11 weckt Dich und gibt Dir auch die Fahrzeiten von Zügen und Schiffen bekannt.

Das Zeitzeichen am Radio 

Der mit Abstand beliebteste Uhrzeit-Service Public ist aber das über die Radiosender ausgestrahlte Zeitzeichen. In der Schweiz beginnt das Radiozeitalter 1910 mit dem Empfang des vom Eifelturm ausgestrahlten Zeitzeichens der Pariser Sternwarte. Die dafür benötigten Zeitzeichenempfänger – eine Art Ur-Radios – müssen bei der Eidgenössischen Telegrafenverwaltung (PTT) konzessioniert werden. Die erste Zulassung erhält Paul-Louis Mercanton, Professor für Physik und Elektrizitätslehre an der Universität Lausanne. Die zweite Konzession geht an die Uhrmacherschule in La Chaux-de-Fonds. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschlagnahmt die Telegraphenverwaltung alle vorhandenen Radioempfänger. Es gilt den Empfang von Funksignalen aus dem Ausland zu unterbinden. 1916 führt sie als Zeitzeichen-Ersatz einen telefonischen Dienst ein, der ebenfalls auf dem Zeitsignal des Eifelturms beruht. Zwischen 10:56 und 11 Uhr wird über das Telefon eine Serie von Signalen übertragen. Danach richten Uhrmacher:innen Ihre Uhren und überprüfen den Gang von Uhrwerken und Neuentwicklungen. Der Empfang des Radio-Zeitzeichens steht im Ersten Krieg also nur der Telegrafenverwaltung zu! Offenbar verfügt man dort 1914-1916 aber über keinen eigenen Radioempfänger. Die Verwaltung löst das Problem, indem sie das zuvor eingezogenen Radio des Uhrengeschäfts W. Türler in Bern ankauft.

Mit dem Empfang des Zeitzeichens des Eifelturms geht auch ein vorübergehender Bedeutungsverlust des Observatorium Neuenburg einher. Eigentlich war auf dem Chaumont oberhalb Neuenburgs ein eigener Radio-Zeitzeichensender geplant. Dieses Projekt wird mit dem gefunkten Zeitsignal aus Paris obsolet. In den 1920er Jahren erobert sich die exakte Zeit aus Neuenburg jedoch ihren Platz im Äther. Wie ein Blick in die Zeitungs-Radioprogramme zeigt, gehört z.B. bei Radio Bern ab 1926 das «Zeitzeichen der Sternwarte Neuenburg» zum fixen Sendeplan. In den 1930er Jahren übernehmen die drei Landessender Beromünster, Sottens und Monte Ceneri diese Tradition und senden jeweils um 12:30 und 16:00 die genaue Zeit als getaktetes Tonsignal. Ausgelöst werden die Signale ab 1934 direkt in Neuenburg und gelangen über PTT-Leitungen zu den Landessendern (die Schweizer Film Wochenschau berichtet 1945 aus dem Jura). Einem Hörer und diplomierten Ingenieur bescheinigt die PTT 1938, «dass die durchschnittliche Genauigkeit des Zeitzeichens von Beromünster 3/100 Sekunden beträgt. Die maximal vorkommenden Abweichungen betragen 1/10 Sekunde». Das Richten der eigenen Armbanduhr vor den Mittagsnachrichten wird in vielen Haushalten zu einem regelrechten Ritual. Ein Artikel zum Zeitdienst in der PTT-Zeitschrift «Technische Mitteilungen» schliesst 1936 mit dem Motto «Zeit ist Geld». Genau diese Sicht auf die Welt wird wohl bei jedem Richten der eigenen Uhr verinnerlicht. Es gilt nach der Mittagspause wieder pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen. Und vielleicht ist genau dies eine Art immaterielles Kulturerbe der Schweiz: Die bünzlige Pünktlichkeit! Letztere wird über den Kurzwellensender Schwarzenburg auch in die ganze Welt exportiert. Ab 1960 werden dort Zeitansage und das Zeitzeichen mit dem diskreten Werbehinweis auf Schweizer Chronometer ausgestrahlt. Als Gegenleistung unterstützt die Uhrenindustrie die Nachrichtensendungen auf Kurzwelle finanziell. Erstmals hält damit Werbung Einzug in der schweizerischen Radiopolitik. Wie das Zeitzeichen des Eifelturms zeigt, wird aber auch anderswo die pingelige Pünktlichkeit geschätzt. International am bekanntesten ist für lange Zeit wohl das Radio-Zeitzeichen der britischen BBC. 

Eine schwarz-weiss Zeichnung mit einer Strassenszene in einer Stadt: Alle schauen gleichzeitig auf die Uhr, weil sie das Zeitzeichen hören.
Ein amtlicher Brief aus dem Jahr 1938: Die PTT beantwortet darin die Genauigkeit der Zeitansage.
Eine einfache Tabelle mit verschiedenen schwarzen Balken illustriert, wann auf welchem Radiosender die Zeitzeichen zu hören sind.

Atomuhren statt Himmelsmechanik 

Im Observatorium Neuenburg bliebt man auf dem neusten Stand der Technik. Ende der 1940er Jahre lösen Quarzuhren die bisherigen Highend-Pendeluhren als Mutteruhr ab. Nachdem sie 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel gezeigt wurde, bestimmt eine in Neuenburg entwickelte Atomuhr nun die genaue Zeit mit. Im Zeitraum 1958-2011 wird über den Zeitzeichensender Prangins die genaue Uhrzeit über Langwellen verbreitet. Basis dafür sind für lange Zeit die Atomuhren in Neuenburg. Das Zeitzeichen aus Prangins steuert funkgeeichte öffentliche Uhren direkt und ist insbesondere bei der jährlichen Umstellung auf die 1981 eingeführte Sommerzeit praktisch. Erste Funkuhren für den Privatgebrauch kommen 1986 auf den Markt.

Eigentlich ist das Observieren der Erdrotation zur genauen Zeitbestimmung seit 1967 überflüssig und hat seither nur noch eine Art Kontrollfunktion. Die damals definierte Atomsekunde ist auf Grund der Eigenschwingung des Isotops Cäsium 133 definiert, wobei die Bewegungen der subatomaren Teile der Himmelsmechanik nicht unähnlich sind. Seit 1982 ist in der Schweiz das heutige Eidgenössische Institut für Metrologie METAS für die genaue Zeitmessung zuständig und definiert zusammen mit ähnlichen Institutionen im Ausland die genaue Zeit. Die entsprechenden METAS-Atomuhren laufen gegenwärtig in einem Keller in Wabern. Das Observatorium Neuenburg stellt seine Dienste 2007 ein. Mit der Liberalisierung des Staatsbetriebes PTT verlieren die Nachfolger Post und Swisscom die Macht über die Zeitvermittlung. Anders als bei der Telekommunikation oder Paketpost bleibt die Herrschaft über die Zeit in der Hand des Staates. In den USA steht die «Master Clock» gar im Garten des Vizepräsidenten. Dessen Amtssitz befindet sich im «United States Naval Observatory», wo auch ein hochgenauer Zeitdienst für militärische Nutzer angesiedelt ist. 

Die exakte Zeit ist weiterhin technisch höchst relevant, basiert doch beispielsweise die GPS-Navigation darauf. Die Region Neuenburg bleibt bis heute ein Hub für Knowhow und Bau von Atomuhren. Das Radio-Zeitzeichen ist hingegen nur noch eine Erinnerung. Laut SRF geht das letzte Zeitzeichen am 14. Dezember 2012 um 12:30 über die Radiosender. Die neue digitale Radiotechnologie mit DAB+ macht eine Übertragung in Echtzeit unmöglich. Digitale Signale in Töne umzurechnen, braucht seine Zeit und würde das Zeitzeichen um 1-3 Sekunden verzögern.

Wie eingangs dargelegt, begleitete früher Glockengeläut den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Es liesse sich die These aufstellen, dass dieser nach wie vor existierende Brauch ab dem 20. Jahrhundert erweitert wird: zur Konfirmation wird eine erste «richtige» Uhr geschenkt, zur Hochzeit gibt es eine Neuenburger Pendule fürs Wohnzimmer und das Dienstjubiläum bei der Firma wird mit einer goldenen Uhr gewürdigt. Die geschenkte Uhr «läutet» jeweils einen neuen Lebensabschnitt ein. 

Heute steht wohl das erste eigene Smartphone für den Eintritt in den Lebensabschnitt der Adoleszenz. Auch Smartphones und Smartwatches zeigen die exakte Zeit an. Nach wie vor basiert diese auf Atomuhren. Über das Internet werden Endgeräte über das Network Time Protocol (NTP) mit der Uhrzeit versorgt, teilweise wird die genaue Zeit via GPS-Daten übermittelt. Als Vermittlerin der genauen Zeit haben amerikanische Big Tech Firmen wie Alphabet (Google) und Apple die nationalen Zeitvermittlungsdienste abgelöst. Forderte einem früher die Kirchenglocke zum Gebet, zur Mittagspause, zur Abendruhe und zum Gang zur Kirche auf, so greifen heutige Smartwatches viel intimer in unseren Alltag ein! Nebst der Anzeige von Terminen und Nachrichten hält die vernetzte Armbanduhr ein umfangreiches Disziplinierungs- und Selbstoptimierungsangebot bereit: die Uhr kontrolliert das Tagessoll an Bewegung, mahnt bei Müssiggang zur körperlichen Aktivität, verteilt Lob und Auszeichnungen beim Erreichen der Sportziele und gibt Feedbacks zur Qualität des Schlafes. Dank Temperatursensoren kann die Uhr sogar den Gang des weiblichen Zyklus überwachen und perfekt voraussagen. Bei all der Kontrolle erstaunt es nicht, dass die mechanische Uhr seit Jahren ein Comeback erlebt. Der wahre Luxus ist dabei vielleicht, dass man sich ein paar Sekunden Unpünktlichkeit leisten kann. 

Autor

Juri Jaquemet, Sammlungskurator für Informations- und Kommunikationstechnologie, Museum für Kommunikation, Bern

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