Tanz ist eine Sprache, oder?
Wo beginnt Tanz – und wo endet er? Wer definiert ihn und wer spielt mit? Im Zusammenhang mit der Ausstellung DANCE! des Museums für Kommunikation erkundet Jürg Koch von der Kompanie BewegGrund das Universum Tanz spielerisch und wortgewandt. Ein Text über Normen, Möglichkeiten, einen erweiterten Blick und ein Bein zu viel.
Du nickst. Heisst das: Ja - Ja? - Jäääh? - Jein!
Ich hebe die Augen, den Kopf hoch, schaue zur Decke. Musternd lasse ich den Blick nach unten schweifen, nehme den Raum vor mir ein. Dies wiederholend, immer wieder wechselnd von tief zu hoch. Zuerst kontinuierlich, langsam dann plötzlich und beschleunigend wird das Schauen zu einem grüssenden Zunicken, ein Nicken: «Ja» sagen, zustimmen und pulsierenden Kopfwippen. Wenn der ganze Körper folgt und mitmacht ein Ducken und Strecken.
Ohne Zweifel bedeutet Tanz etwas, ist offenbar ein Ausdruck – macht unmittelbar einen Eindruck – kann auch eindrücklich sein. Tanz kann als Text verstanden werden, ist lesbar im Ablauf, im Zusammenhang, im gemeinsamen Erleben zwischen Tanzenden und Zuschauenden.
Die Behauptung steht im Raum, Tanz sei eine Sprache und nicht nur das, sie sei auch universell verständlich, weil Tanz (oft aber auch nicht immer) nicht verbal, ohne Wort geschieht. Tanz wird aber in unterschiedlichen Umfeldern ganz anders und mit anderen Absichten umgesetzt – als soziale Tanzformen (Ausgang, Party, Fest), als Rituale (Prozessionen, Ehrungen, Hochzeiten), als Unterricht (Tanzstudios, Vereine), als Therapie und Vorstellungen (auf Bühnen, auf der Strasse, in Galerien). Ist Tanz etwas das ich mache – oder etwas das andere machen und ich zuschaue? Etwas für alle oder für trainierte und ausgebildete Profis? – Tanz bedeutet hier jedes Mal etwas anderes.
Universell? Vielleicht doch nicht. Tanz ist eben auch geprägt von lokalen, zeitlichen Gegebenheiten. Ist es ein traditioneller Volkstanz? Eine Hip-Hop Lektion? Eine Atemübung? Der Zusammenhang macht den Tanz verständlich(er). Aber vielleicht müssen wir uns auch erst einlesen, einleben, bevor der Tanz uns etwas bedeuten kann.
Tanz als Spiel – und wer spielt mit?
Wir spielen Sport, wir spielen Musik, wie ist das beim Tanz? Was wenn wir Tanz als Spiel verstehen, als Bewegungsspiel? Wie alle Spiele hat Tanz Regeln, Konventionen und Normen. Jede Tanzart definiert diese Regeln anders. Der Tanz kann konservative Werte von «Können» und «Schönheit» bestärken oder auch grundsätzlich herausfordern.
Eine Norm im Tanz ist, dass die Grundlage vordefinierte «Schritte» sind. Oder – die Grundlage von Tanz ist Bewegung. Wir alle bewegen uns. Wir bewegen uns im Alltag funktionell: Strecken oder bücken uns nach etwas, wiegen hin und her, durchqueren den Raum, liegen ab, erheben uns. Tanz ist dann das spielerische Variieren dieser Möglichkeiten.
Was auch sicher ist, Tanz findet immer mit (m)einem Körper statt. Ohne ihn kann ich nicht tanzen. Der Körper und die Person mit ihren Möglichkeiten, Stärken, Grenzen und Interessen wird beim Tanzen offenbar – ist wie ein Porträt. Meine Identität, wer ich bin, wie ich erscheine oder eben gelesen werde, ist beim Tanzen immer dabei. So zum Beispiel als: Ein Mann, Mitte 50, gross, schlank mit dunkeln, kurzen Haaren und einem kleinen Unterlippenbart.
Tanz verkörpert Werte, Normen, Regeln. Hier tragen wir auch Erwartungen mit uns, wie Tanz und Tanzende aussehen - auch Klischees (welches ursprünglich Abdruck, Abklatsch bedeutet.) Eine Ballerina in weissem Tutu ist das Klischee von Tanz schlechthin. Unsere Kompanie BewegGrund arbeitet mit Menschen mit und ohne Behinderungen. Ein stilisierter Rollstuhl in Weiss auf blauem Grund ist das Sinnbild für Behinderung und Zugang. Das Klischee für Menschen mit Behinderungen ist, dass sie Einschränkungen haben, Zugang brauchen, möglichst gut eingegliedert werden sollten in eine normative Welt. Der Fokus ist auf eine Einschränkung – nicht auf Möglichkeiten, Fähigkeiten oder Interessen, ausgerichtet.
Kunst, und Tanz als Teil davon, ist eine grundsätzliche, menschliche Auseinandersetzung mit Leben und Existenz. Was kann Tanz aber denn über den menschlichen Zustand ausdrücken, kommunizieren, wenn alle Tanzenden jung, athletisch, virtuose sind. Oder umgekehrt: Welches Potential kann Tanz entfalten, wenn wir einen Querschnitt, Durchschnitt oder anderen Ausschnitt der Gesellschaft darstellen lassen – (sich) repräsentieren lassen.
Ein Bein zu viel
In der Candoco Dance Company tanzte ich im Stück «Sunbyrne» von Doug Elkins in einem Duett mit Welly O’Brien. Welly hat ein Bein und tanzt auf der Bühne ohne ihre Prothese. Das Duett wurde mit uns entwickelt und verwendete Elemente von Capoeira und Contact Improvisation mit vielen Gegenbalancen und Hebeelementen.
Auf Tournee hatte Welly eine temporäre Rückenverletzung und musste für eine Vorstellung durch eine nicht-behinderte Tänzerin aus der Kompanie ersetzt werden. Während der Probe stellten wir fest, dass Teile des Duettes ausgelassen oder durch anderes Material ersetzt werden mussten, weil das zweite Bein der Ersatztänzerin immer in die Quere kam. Es war ein Bein zu viel.
Dies ist der Moment, wo Tanz und Behinderung interessant wird. Es handelt sich nicht um ein Einpassen von Menschen mit Behinderungen in die existierenden Tanzformen und -schritte, welche auf nicht-behinderten Menschen entwickelt wurden. Wie tanzt eine Frau ohne Beine, ein Mann mit Trisomie 21 oder ein Kind mit einer Sehbehinderung. Es geht darum mehr und neue Tanzmöglichkeiten zu entdecken, erfinden und vorzustellen.
Im Zusammenspiel von Körpern und Bewegung sagt Tanz etwas aus, vielleicht wie eine Sprache, vielleicht auch Unausgesprochenes zwischen den Linien. Im Tanzen umschreiben wir so Normen und Regeln und können sie so auch umschreiben. Wir entwerfen und skizzieren Möglichkeiten, erfinden und präsentieren Tanz und sagen offenbar, unmittelbar, lesbar – gemeinsam, etwas aus. Ja? Ja!
Was ist mein Tanz? Wie tanzt du? Wie tanzen wir gemeinsam?
Wir kriegen das zusammen auf die Reihe und können auch aus der Reihe tanzen.
Autor
Jürg Koch, Mitarbeiter von BewegGrund, Bern - geschrieben im Zusammenhang mit der Ausstellung DANCE! des Museums für Kommunikation.
Alice