«Da war nichts und da wird nichts sein»
Was Grossvater Fritz wohl zu der NICHTS-Ausstellung sagen würde? Jedenfalls hatte er zu Lebzeiten vieles zum Nichts zu sagen... Ein persönlicher Blog-Beitrag zur Ausstellung NICHTS von Sibylle Heiniger.
Ich wuchs die ersten Jahre meines Lebens bei meinen Grosseltern auf. Danach kam das Nichts. Weil mein Grossvater mich das Nichts lehrte und er plötzlich weg war. Und ich konnte nicht damit umgehen. Er schon. Sein Leben war voll davon, voller Nichts.
Seine Mutter starb früh. Sein Vater brachte ihn zu Verwandten. Ein Maul mehr zu stopfen dort. Und dafür war wenig da, eigentlich nichts. Also wurde er ein Verdingbub, irgendwo im Emmental. Darüber erzählte er mir nichts, fast nichts. Ich weiss nur, dass er nicht zur Schule durfte und er sich Lesen und Schreiben viel später irgendwie selber beibrachte. Dass er eines Tages beschloss, den Hof zu verlassen – er, der Nichtsnutz. Und er landete im Mittelland, zur Zeit nach dem Generalstreik. Er wusste nichts davon. Er arbeitete in einer Fabrik. Und da gab es die Gewerkschaft. Die Gewerkschaft setzte sich ein für solche wie ihn. Und so einer wurde er, ein Gewerkschafter, ein Kämpfer, mein Grossvater. Mit so einem Grossvater wuchs ich auf.
Er las mir aus dem Kapital von Marx vor, keine Märchen von Grimm. Ich verstand nichts.
Ich ging mit ihm zu den «Tschinggen»*, die in den Baracken der Fabrik wohnten. Ich verstand wieder nichts.
Mein Grossvater empörte sich oft – das verstand ich nicht. Ich wusste nicht, warum.
Er wurde krank. Das verstand ich auch nicht. Und dann ging mein Grossvater ins Nichts.
«Da war nichts und da wird nichts sein», sagte er oft. «Was ist also dieses Nichts, wenn da nichts ist?», fragte ich mich.
Meine Grossmutter wollte eine kirchliche Abschiedsfeier für meinen Grossvater, obwohl er überzeugt war, dass es nichts gibt: keinen Gott, keine überirdische Macht. Das verstand ich gar nicht.
Und dann, Jahre später, erzählte mir Kurt Stadelmann von seinen Gedanken und Ausstellungsideen zu NICHTS. Das Nichts irgendwie fassbar zu machen, im Museum für Kommunikation. Denn: Dinge, Umstände, die wir nicht verstehen, nicht kennen oder nicht beschreiben können oder wollen, bezeichnen wir oft mit «Nichts». «Nichts» begleitet uns in unserem Alltag auf Schritt und Tritt.
«Was machst Du?»: «Nichts.»
«Was ist das?» «Nichts!»
«Ich habe nichts verstanden.»
«Ich habe dir nichts zu sagen.»
Und plötzlich war er wieder da, mein Grossvater, wie aus dem Nichts. Danke Fritz! Nichts ist eben sehr viel. Nichts ist alles.
* «Tschingg/Tschingge» war eine abschätzige Bezeichnung für Eingewanderte und Gastarbeitende aus Italien. Tschingg kommt von Cinque (Fünf).
Autorin
Sibylle Heiniger
Sibylle Heiniger ist freie Theaterschaffende. Für die Ausstellung konzipierte sie den Film zu Alltags-NICHTSen und setzte ihn gemeinsam mit den Schauspielenden Adrian Fähndrich, Silvia Jost, Gulshan Sheikh und Jonathan Witte Fink um.
Kommentare (2)
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nichtsam 24.07.2024Antwortennichts